Deutsche entschuldigen sich 47 Mal am Tag – Psychiater warnt vor den Folgen

Warum du dich ständig entschuldigst – und wann das problematisch wird

Du stößt mit jemandem zusammen und entschuldigst dich spontan – obwohl der andere dich angerempelt hat. Du stellst im Meeting eine Frage und leitest sie mit „Entschuldigung, aber…“ ein. Oder du kommst pünktlich zu einem Termin und sagst trotzdem: „Sorry, dass ich zu früh bin.“ Wenn du dich bei diesen Szenarien wiedererkennst: Willkommen im Kreis der Über-Entschuldiger.

Was wie Höflichkeit wirkt, zeigt oft tieferliegende Muster: Unsicherheit, Angst vor Ablehnung oder der Wunsch, bloß niemandem zur Last zu fallen. Wenn du dich sogar für deine bloße Anwesenheit entschuldigst, lohnt sich ein genauerer Blick – denn dann kann sich ein automatisches Entschuldigungsverhalten zur echten Belastung entwickeln.

Das Entschuldigungs-Phänomen: Mehr als nur Höflichkeit

Psychologinnen und Psychologen unterscheiden drei Arten von Entschuldigungen:

  • Funktionale Entschuldigungen: Nach tatsächlichem Fehlverhalten – wichtig und sinnvoll.
  • Soziale Entschuldigungen: Um Konflikte zu vermeiden oder Höflichkeit zu zeigen.
  • Übermäßige Entschuldigungen: Wenn wir uns für Dinge entschuldigen, für die eigentlich keine Entschuldigung nötig ist.

Der amerikanische Psychiater Dr. Aaron Lazare hat erforscht, dass exzessives Entschuldigen selten mit echter Höflichkeit zu tun hat. Es ist vielmehr ein psychologischer Schutzmechanismus – um Scham zu regulieren, Verlegenheit zu vermeiden oder sich vor Ablehnung zu schützen.

Die deutschen Besonderheiten

Im deutschsprachigen Raum gelten Bescheidenheit und Rücksichtnahme als soziale Tugenden. Studien zeigen, dass Menschen in Deutschland tendenziell häufiger zu präventiven Entschuldigungen neigen – auch wenn objektiv kein Fehler vorliegt. Im interkulturellen Vergleich fällt auf: In den USA wird häufiges Entschuldigen oft als Zeichen von Unsicherheit gewertet. Dort gilt: Entschuldigung ja – aber nur, wenn’s wirklich nötig ist.

Die Psychologie hinter dem ständigen „Sorry“

Der Angst-vor-Ablehnung-Komplex

In der Evolution hatte soziale Zugehörigkeit eine überlebenswichtige Rolle. Ausschluss aus der Gruppe konnte früher lebensgefährlich sein – unser Gehirn reagiert heute noch ähnlich. Studien zeigen, dass Ablehnung im Gehirn dieselben Areale aktiviert wie körperlicher Schmerz. Unser Unterbewusstsein entschuldigt sich also nicht zum Spaß – sondern als Schutzstrategie.

Das Selbstwert-Problem

Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl entschuldigen sich laut Studien häufiger – und für belanglose Dinge. Die Psychologin Karina Schumann konnte nachweisen, dass sich Betroffene selbst bei harmlosen Meinungsäußerungen oder Bitten schuldig fühlen. Das Problem: Wer sich selbst als Belastung wahrnimmt, entschuldigt sich am Ende sogar für seine Existenz.

Die Perfektionismus-Falle

Perfektionist:innen neigen dazu, sich selbst extrem hohe Standards zu setzen – und verurteilen sich, wenn sie diese nicht zu hundert Prozent einhalten. Laut Forschung von Flett, Hewitt und Dyck führt das häufig zu übertriebenem Entschuldigen: Schon minimale Abweichungen vom Ideal werden als Scheitern empfunden – und mit einer Entschuldigung quittiert.

Wann Entschuldigen zur Selbstsabotage wird

Der Glaubwürdigkeitsverlust

Wer sich ständig entschuldigt, wirkt auf Dauer nicht sympathischer – sondern unsicher oder inkompetent. Dieses Phänomen beschreiben Fachleute als „Entschuldigungsparadox“: Je öfter man sich entschuldigt, desto weniger wirksam sind diese Entschuldigungen, wenn es mal wirklich darauf ankommt.

Die Macht-Dynamik

Im Berufsleben hat das Konsequenzen. Studien zeigen, dass häufiges Entschuldigen mit geringerer Wahrnehmung von Führungskompetenz und geringeren Aufstiegschancen verbunden ist. Wer sich fortlaufend kleinmacht, wird seltener als durchsetzungsfähig wahrgenommen – unabhängig vom tatsächlichen Können.

Der Teufelskreis der Selbstabwertung

Ständiges Entschuldigen kann zu „erlernter Hilflosigkeit“ führen – einem Zustand, in dem Menschen das Gefühl entwickeln, keine Kontrolle über ihre Wirkung oder Situation zu haben. Das fördert Passivität, Selbstzweifel und im schlimmsten Fall psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen.

Die häufigsten Entschuldigungs-Trigger

Die „Entschuldigung, dass ich existiere“-Momente

  • Im Fahrstuhl: Du stehst ganz normal da – entschuldigst dich aber trotzdem, wenn jemand einsteigt.
  • Im Restaurant: Du sagst „Entschuldigung, könnten wir bestellen?“ – dabei ist das völlig legitim.
  • Bei der Arbeit: „Sorry, dass ich nachfrage“ – obwohl eine Rückfrage zur Klärung wichtig ist.
  • In Gesprächen: Du entschuldigst dich dafür, dass du eine Meinung oder Idee hast.

Die präventiven Entschuldigungen

Präventive Entschuldigungen beginnen mit Sätzen wie „Entschuldigung, falls das eine dumme Frage ist“ oder „Sorry, aber ich sehe das anders“. Hierfür gibt es meist keinen rationalen Grund – außer der Angst, unbequem zu wirken oder Ablehnung zu erfahren.

Der Weg raus aus der Entschuldigungs-Spirale

Schritt 1: Bewusstsein schaffen

Führe eine Woche lang ein Entschuldigungs-Tagebuch. Notiere dir jede Entschuldigung und bewerte sie:

  • 1–3: Reine Gewohnheit, nicht nötig
  • 4–6: Nett gemeint, aber entbehrlich
  • 7–10: Wirklich angebracht und sinnvoll

Du wirst schnell sehen: Die meisten Entschuldigungen fallen in die unteren Kategorien.

Schritt 2: Die Stopp-Technik

Bevor du dich entschuldigst, halte einen Moment inne und frage dich: „Habe ich wirklich etwas falsch gemacht?“ Wenn nicht – ersetze die Entschuldigung durch eine neutrale oder wertschätzende Formulierung.

Schritt 3: Alternativen entwickeln

  • Statt: „Entschuldigung, könnte ich mal kurz…“
    Besser: „Darf ich Sie kurz etwas fragen?“
  • Statt: „Sorry, dass ich nachhake…“
    Besser: „Ich möchte noch etwas ergänzen.“
  • Statt: „Entschuldigung für die Verspätung“ (wenn du pünktlich bist)
    Besser: „Danke fürs Warten.“
  • Statt: „Tut mir leid, aber ich sehe das anders.“
    Besser: „Ich habe eine andere Sichtweise.“

Schritt 4: Das Selbstwertgefühl stärken

Mach dir bewusst: Du hast ein Recht darauf, Raum zu beanspruchen, Fragen zu stellen und gehört zu werden – ohne dich dafür zu entschuldigen. Eine einfache Übung: Notiere dir jeden Abend drei Situationen, in denen du bewusst keine Entschuldigung gesagt hast, obwohl du es früher getan hättest.

Wann Entschuldigen richtig und wichtig ist

Natürlich ist Entschuldigen nicht per se schlecht – im Gegenteil! Eine aufrichtige Entschuldigung kann Beziehungen stärken, Konflikte lösen und Vertrauen wiederherstellen. Wichtig ist nur: Sie sollte bewusst und authentisch erfolgen.

Die Anatomie einer guten Entschuldigung

  • Spezifisch: Nenne konkret, was du falsch gemacht hast.
  • Aufrichtig: Die Entschuldigung muss ehrlich gemeint sein – keine Pflichtübung.
  • Verantwortlich: Übernimm die Verantwortung ohne „Aber“. Keine Rechtfertigung.
  • Zukunftsorientiert: Zeig, was du künftig anders machen wirst.

Beispiel: „Es tut mir leid, dass ich zu spät war. Ich habe die Zeit falsch eingeschätzt. Ich werde mir für das nächste Mal einen Puffer einplanen.“

Wann du dich definitiv entschuldigen solltest

  • Wenn du objektiv einen Fehler gemacht hast
  • Wenn du jemanden verletzt oder enttäuscht hast
  • Wenn du dein Wort oder Versprechen gebrochen hast
  • Wenn du dich unhöflich, abweisend oder respektlos verhalten hast

Die Langzeitfolgen: Wie sich dein Leben verändert

Im Berufsleben

Menschen, die nicht für jeden Schritt um Verzeihung bitten, werden als durchsetzungsfähiger wahrgenommen. Ihre Argumente bekommen mehr Gewicht, ihre Rolle in Meetings wird ernster genommen – das stärkt nicht nur das Standing, sondern öffnet auch Türen für Entwicklung und Verantwortung.

In Beziehungen

Ein ausgewogenes Entschuldigungsmuster führt zu authentischeren Beziehungen. Wer aufhört, sich für seine Gefühle und Bedürfnisse zu entschuldigen, wird eher ernst genommen und begegnet anderen auf Augenhöhe.

Für dein Selbstbild

Du stärkst dein Selbstwertgefühl nachhaltig. Du merkst: Du musst dich nicht ständig rechtfertigen, um geliebt, respektiert oder akzeptiert zu werden.

Fazit: Entschuldigen als bewusste Entscheidung

Eine gut platzierte Entschuldigung kann stark und verbindend sein – keine Frage. Doch das dauerhafte und reflexartige Entschuldigen bringt dich in eine schwächende Position. Es signalisiert Unsicherheit, auch wenn du kompetent, herzlich und integer bist.

Statt deine eigene Wirkung permanent zu untergraben, mach deinen Umgang mit Entschuldigungen zu einer bewussten Entscheidung. Übung, Achtsamkeit und gezielte Veränderung lohnen sich. Denn wenn du aufhörst, dich unnötig zu entschuldigen, beginnst du, in deiner Kraft zu stehen – und genau das wird auch dein Umfeld spüren.

Wann hast du dich zuletzt unnötig entschuldigt?
Für eine Nachfrage im Meeting
Weil ich jemanden unterbrochen habe
Beim Betreten eines Raumes
Beim pünktlichen Auftauchen
Für meine Meinung

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