Deutsche entschuldigen sich 47 Mal am Tag – warum das deinem Selbstwertgefühl schadet

Warum das ständige Entschuldigen ein Warnsignal sein kann – und was dein „Sorry“ über dich verrät

Du stößt versehentlich mit jemandem zusammen – „Entschuldigung!“ Du fragst nach der Uhrzeit – „Sorry, könntest du mir kurz sagen…?“ Du betrittst einen Raum – „Entschuldigt, dass ich störe.“ Falls dir das bekannt vorkommt, bist du nicht allein. Millionen Deutsche entschuldigen sich täglich für völlig normale Situationen. Was oberflächlich wie Höflichkeit erscheint, kann jedoch ein tief verankertes psychologisches Muster sein – manchmal sogar ein Hinweis auf ein geringes Selbstwertgefühl oder übermäßige Konfliktscheu.

Eine Studie der University of Waterloo in Kanada zeigt: Frauen entschuldigen sich häufiger als Männer – nicht, weil sie höflicher oder „netter“ sind, sondern weil sie mehr Situationen als entschuldigungswürdig bewerten. Solche geschlechtsbedingten Unterschiede scheinen in vielen westlichen Kulturen vorzukommen. Auch in Deutschland ist die Tendenz zum übermäßigen Entschuldigen weit verbreitet – möglicherweise begünstigt durch kulturelle Werte wie Höflichkeit und Zurückhaltung.

Das versteckte Spiel hinter dem „Sorry“

Dr. Susan Krauss Whitbourne, Professorin für Psychologie, betont, dass chronisches Entschuldigen oft mehr über unser Innenleben verrät, als uns bewusst ist. Hinter einem automatisierten „Sorry“ kann ein geringes Selbstwertgefühl, der Wunsch nach Harmonie oder Angst vor Ablehnung stecken. Häufige Entschuldigungen wirken wie ein psychologischer Schutzmechanismus – als wollten wir uns vorsorglich absichern, bloß keinen sozialen Fehler zu begehen.

Die verschiedenen Typen der Dauerentschuldiger

  • Der Raum-Entschuldiger: „Entschuldigung, ich stehe im Weg.“ Diese Menschen empfinden ihre bloße physische Präsenz als potenzielle Störung.
  • Der Bedürfnis-Entschuldiger: „Sorry, dass ich frage…“ Hier wird das Äußern von normalen Bedürfnissen bereits als Belastung empfunden.
  • Der Emotion-Entschuldiger: „Entschuldigung, dass mich das so trifft.“ Selbst eigene Emotionen erscheinen entschuldigungspflichtig.
  • Der Präventiv-Entschuldiger: „Sorry, falls ich störe.“ Diese Form dient der Absicherung gegen künftige – oft gar nicht eintretende – Situationen.

Psychologische Hintergründe

Chronisches Entschuldigen hat oft Wurzeln in der frühen Biografie. Entwicklungspsychologische Studien zeigen: Menschen mit einer Kindheit, in der Kritik, Zurückweisung oder überhöhte Anpassung dominieren, neigen im Erwachsenenalter eher zu konfliktscheuem und unterwürfigem Verhalten.

Geprägte Zurückhaltung aus der Kindheit

Sätze wie „Stör die Erwachsenen nicht“ oder „Sei nicht so laut“ können in einem Kind das Gefühl erzeugen, seine Bedürfnisse seien problematisch. Das Ergebnis ist ein Automatismus: Um nicht anzuecken, wird im Zweifel lieber gleich ein „Sorry“ eingeschoben.

In ihrem Werk „The Disease to Please“ beschreibt die Psychologin Dr. Harriet Braiker unterschiedliche Verhaltensmuster von Menschen, die es allen recht machen wollen. Chronisches Entschuldigen ist häufig Ausdruck dieses „People-Pleasing“ – eine Selbstschutzstrategie, die später kontraproduktiv wirkt.

Wenn Perfektionismus mitspielt

Auch perfektionistisch veranlagte Personen entschuldigen sich besonders häufig – aus Angst, anderen nicht zu genügen oder gar zu enttäuschen. Studien belegen, dass Menschen mit hohen Ansprüchen an sich selbst überkritisch agieren und sich auch für scheinbare „Kleinigkeiten“ entschuldigen, etwa für Rückfragen oder Unsicherheiten im Gespräch.

Wie uns das ständige Entschuldigen schadet

Was wie übertriebene Höflichkeit erscheinen mag, kann langfristig Spuren hinterlassen – psychologisch wie auch im sozialen Miteinander.

Selbstwert unter Druck

Jede unnötige Entschuldigung sendet eine unterschwellige Botschaft: „Ich bin schuld“ – auch wenn das objektiv nicht zutrifft. Laut Psychologe Dr. Guy Winch prägt diese Wiederholung ein negatives Selbstbild. Chronisches Entschuldigen ist wie ein täglicher kleiner Angriff auf das eigene Selbstwertgefühl.

Soziale Wahrnehmung: Unsicherheit statt Stärke

Wer bei jeder Gelegenheit „Sorry“ sagt, wirkt oft nicht wie ein höflicher Mitmensch, sondern als unsicher, konfliktscheu oder wenig durchsetzungsstark. Studien zur sozialen Rollenwahrnehmung zeigen, dass übermäßige Selbstkritik bei anderen eher als Schwäche statt als Kompetenz interpretiert wird – besonders in beruflichen Kontexten.

Ungewollter Fokus

Ein weiteres Problem: Ein „Sorry“ lenkt Aufmerksamkeit oft auf Dinge, die anderen womöglich gar nicht aufgefallen wären. Wer sagt „Sorry, dass ich so müde aussehe“, verstärkt damit einen Eindruck, der zuvor gar nicht vorhanden war.

Wann Entschuldigungen problematisch werden

Selbstverständlich ist es wichtig, sich ehrlich zu entschuldigen, wenn man einen Fehler gemacht hat. Problematisch wird es jedoch, wenn sich das Entschuldigen wie ein Reflex anfühlt – losgelöst davon, ob eine Entschuldigung überhaupt notwendig ist.

Typische Warnsignale

  • Entschuldigungen für normale Bedürfnisse: „Sorry, dass ich aufs Klo muss.“
  • Entschuldigungen für eigene Meinungen: „Entschuldige, aber ich sehe das anders.“
  • Entschuldigungen für Dinge, die du nicht kontrollieren kannst: „Sorry für das Wetter.“
  • Wiederholte Entschuldigungen für dieselbe Situation: „Sorry… Ich weiß, ich hab’s schon gesagt, aber sorry nochmal.“

Verlernen, sich ständig zu entschuldigen

Die gute Nachricht: Dieses Verhalten ist erlernt – und lässt sich auch wieder verlernen. Der Schlüssel liegt im bewussten Umgang mit Sprache und innerer Haltung.

Die Pause-Technik

Bevor du dich entschuldigst, halte kurz inne. Frage dich: „Habe ich wirklich etwas falsch gemacht?“ Diese Reflexion hilft, automatisiertes Verhalten zu durchbrechen. Die Psychologin Dr. Maja Storch empfiehlt hierzu die Technik der „größeren Achtsamkeit vor Entschuldigungen“.

Die Umformulierung: Dank statt Schuldbekenntnis

Statt „Sorry, dass ich zu spät bin“ könntest du sagen: „Danke, dass ihr gewartet habt.“ Der Fokus verlagert sich damit auf Wertschätzung – das signalisiert Selbstsicherheit statt Unterwürfigkeit.

Beobachtung durch Tagebuch

Notiere dir eine Woche lang jedes Mal, wenn du dich entschuldigst, und analysiere die Situationen später: War die Entschuldigung wirklich nötig? Diese Methode ist Teil verhaltenspsychologischer Ansätze und hilft, eigenes Verhalten deutlich bewusster wahrzunehmen.

Manipulation durch Entschuldigung?

Manchmal steckt hinter dem exzessiven Entschuldigen nicht Unsicherheit, sondern ein sozialstrategisches Verhalten. Der US-amerikanische Psychologe Dr. George Simon beschreibt den Mechanismus der „Opfer-Positionierung“: Wer sich ständig entschuldigt, kann andere emotional erpressen, indem er ihnen das Gefühl vermittelt, hart oder unfair zu sein.

Grenze zwischen Höflichkeit und Selbstverleugnung

Echte Höflichkeit achtet sowohl das Gegenüber als auch sich selbst. Unterwürfigkeit hingegen impliziert, dass dein Dasein stört. Wer sich ständig entschuldigt, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, verzichtet auf einen Teil seiner Selbstachtung.

Selbstbewusst kommunizieren – ohne Arroganz

Du musst nicht laut, dickköpfig oder konfrontativ sein, um selbstbewusst zu kommunizieren. Es geht um das Gleichgewicht zwischen Rücksicht auf andere und Respekt vor dir selbst.

Drei praktische Alltagsübungen

  • 24-Stunden-Challenge: Versuche, dich nur zu entschuldigen, wenn du wirklich etwas falsch gemacht hast. Beobachte dabei dein Verhalten.
  • Körpersprache beobachten: Machst du dich klein beim Entschuldigen? Senkst du den Blick? Achte darauf, wie dein Körper dein Selbstbild spiegelt.
  • Das Kompliment-Experiment: Wenn dir jemand ein Kompliment macht, antworte einfach mit „Danke“. Vermeide Relativierungen wie „Ach, das war doch nichts.“

Fazit

Entschuldigungen sind ein wertvolles Werkzeug menschlicher Kommunikation – wenn sie bewusst und angemessen eingesetzt werden. Wer sich jedoch für jede Kleinigkeit entschuldigt, sendet die falschen Signale – an sich selbst und an andere.

Frage dich daher bei jedem „Sorry“: Entschuldige ich mich aus Verantwortungsgefühl – oder nur aus Angst? Du darfst Platz einnehmen, Bedürfnisse haben und deine Meinung äußern. Ohne dich zu entschuldigen.

Selbstachtung beginnt mit bewusstem Sprechen. Und manchmal bedeutet das: Einfach nichts zu sagen – und trotzdem zu sich zu stehen.

Was verrät dein häufigstes Sorry über dich?
Ich will niemandem zur Last fallen
Ich möchte gemocht werden
Ich habe Angst vor Ärger
Ich fühle mich oft fehl am Platz
Ich will alles perfekt machen

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